Zeit/Schrift: journalliterarische ›Chronopoetik‹ und Genese von Literarizität (TP 2)

Zusammenfassung

Im Zentrum der Projektarbeit steht die für die medialen Formate Zeitschrift und Zeitung konstitutive Schnittstelle zwischen ›Zeit‹ und ›Schrift‹, die schon begrifflich Journale als spezifisch zeitgebundene und zeitbezogene Medienformate ausweist. Niklas Luhmann hat in Die Realität der Massenmedien (1996) die »evolutionäre Unwahrscheinlichkeit« »tägliche[r] Nachrichten« ins Bewußtsein gehoben, denn »wenn man mit Nachrichten die Vorstellung des Überraschenden, Neuen, Interessanten, Mitteilungswürdigen verbindet, liegt es ja viel näher, nicht täglich im gleichen Format darüber zu berichten, sondern darauf zu warten, daß etwas geschieht und es dann bekannt zu machen« (S. 53). Das Teilprojekt »Zeit/Schrift« macht die Unselbstverständlichkeit periodischer Verschriftung von Zeit sowie die daraus resultierende Einsicht in das ›poietische‹ Potential der medialen Distribution von Journalberichterstattung zu seinem systematischen Ausgangspunkt; sein Erkenntnisinteresse gilt einer ›Chronopoetik‹ von Journalpublikation. Es untersucht zeitungsnahe Zeitschriften, die aus der journalkonstitutiven Periodizität aussteigen, sie als unselbstverständlich ausstellen und so lesbar werden als Experimente auf das Medienformat. Im Titelbegriff der Forschergruppe akzentuiert das Teilprojekt nicht die Literatur, sondern das Journal. Es richtet seine Aufmerksamkeit auf literaturferne, zeitnahe Journale, um von da aus zu fragen, wo Literarizität anfängt. Als Nukleus von Literarizität begreift es die ›chronopoetische‹ Gestaltung von Zeitverschriftung, die da semantisierbar wird, wo periodische Taktung sich nicht von selbst versteht.
Vor diesem Horizont wird die deutschsprachige Journalpublikation während der Kriege gegen Napoleon 1813–15 als ein Laboratorium aufgefaßt, in dem in einem Interim faktisch bestehender Pressefreiheit am Extrem theoretische Möglichkeiten des Mediums Zeitschrift ausgelotet und mikroskopisch beobachtbar werden. Besonderes Augenmerk gilt Journalen, die a) innerhalb dieses Zeitraums mit ausdrücklichem Zeitbezug neu gegründet werden und dabei Unregelmäßigkeiten aufweisen, die b) ihrem generischen Format nach als ›Zeitblätter‹ konzipiert sind, in deren Programm sich Politisch-Historisches und Militärisches mit Literarisch-Kulturellem mischt, und die c) den eigenen Journalstatus zum Thema machen. Das Kerncorpus umfaßt sechs Journale in ihrem gesamten Erscheinungsverlauf, von denen vier sich durch signifikante Unregelmäßigkeiten in der Periodizität auszeichnen, die übrigen beiden ohne Festlegung auf Regelmäßigkeit begründet werden, statt dessen »in zwanglosen Heften« erscheinen:

  • Das erwachte Europa 1813–15 (»in zwanglosen Heften«; erstes Heft: nach dem 4. März 1813; letztes Heft: Okt./Nov. 1815; Erscheinungsort: Berlin, zeitweilig »Deutschland«; wechselnde Verlagsadressen)
  • Feld-Zeitung 1813/14 (erste Nummer: 6. Okt. 1813; letzte Nummer: 29. April 1814; wechselnde Erscheinungsorte entsprechend dem »jedesmalige[n] Aufenthalt der Königl. Preuß. Feldbuchdruckerei«; Redaktion: Carl Heun)
  • Deutsche Blätter 1813–16 (erste Nummer: 14. Okt. 1813; letzte Nummer: »im Juny 1816«? »im April 1816«?; Erscheinungsorte: Altenburg und Leipzig; Herausgeber/Verleger: Friedrich Arnold Brockhaus)
  • Rheinischer Merkur 1814–16 (erste Nummer: 23. Jan. 1814; letzte Nummer: 10. Jan. 1816; Erscheinungsort: Koblenz; Verlag: B. Heriot; Herausgeber: Joseph Görres)
  • Friedensblätter 1814/15 (erste Nummer: 16. Juni 1814; letzte Nummer: 30. Nov. 1815; Erscheinungsort: Wien [1814], Wien, Freiburg im Breisgau, Leipzig [1815]; wechselnde Verlagsadressen; »Von einer Gesellschaft herausgegeben«)
  • Freimüthige Blätter für Deutsche 1815–18 (»in zwanglosen Heften«; erstes Heft: März/April 1815; letztes Heft: Dez. 1818; Erscheinungsort: Berlin; Verlag: Duncker und Humblot, Maurersche Buchhandlung [1818]; Herausgeber: Friedrich von Cölln)

Um von den aus der Projektarbeit zu erwartenden Extrem-Befunden ›poietischer‹ Gestaltung von Zeit, denen vielfach materiale Unregelmäßigkeiten (des Papierformats, der Papierqualität, der Lettern, der typographischen Gestaltung) entsprechen, abstrahierend zu einem Konzept journalliterarischer ›Chronopoetik‹ zu gelangen, werden synchron und diachron systematische Vergleichsrelationen hergestellt. In diachroner Perspektive erlaubt die Erschließung ›normalerer‹ Journalprojekte in den anderen Teilprojekten Gegenproben auf konzeptuelle Verallgemeinerbarkeit. In synchroner Perspektive wird die medienformatbezogene Spezifik durch eine doppelte Tendenz des buchfernen ›Zeitblatts‹ auf Buchförmigkeit profiliert: konzeptuell auf das Fernziel des abgeschlossenen Werks des Geschichtsschreibers, das aber noch nicht ›an der Zeit‹ sei; material auf das Nahziel journaltypischer Archivierung durch die Überführung von ›Blättern‹ und ›Heften‹ in Vierteljahres-, Halbjahres- oder Jahrgangsbände. Nur daß solche Archivierungstechniken da, wo periodische Regelmäßigkeit suspendiert ist, selbst eine materiale Bühne für editorische und verlegerische Inszenierungen der Spannung zwischen Journal und Buch eröffnen.