Poetik der Miszelle: zur Koevolution von periodischer Presse und modernem Roman (TP 1)

Zusammenfassung

Das Projekt interessiert sich für »Journalliteratur« im engeren Sinne, also die Beobachtung, dass die Erzählstruktur fiktionaler (Schrift-)Texte des 19. Jahrhunderts sich im Wechselverhältnis mit den Formatbedingungen der periodischen Presse entwickelt hat. Dies wurde zeitgenössisch bereits von Karl Gutzkow festgestellt, der zum einen 1831 in seinem Forum der Journal-Literatur diagnostiziert, dass die »belletristische Literatur« »vor Allem jetzt eine periodische geworden« sei. Zum anderen reflektiert er im Vorwort zu seinem Roman »Die Ritter vom Geiste« im Literarisch-Artistischen Beiblatt der Deutschen Allgemeinen Zeitung 1850, dass das alte fiktionale »Nacheinander« vom »Roman des Nebeneinanders« abgelöst werde, in dem »die ganze Welt« liege und die »Zeit wie ein ausgespanntes Tuch« sei. Insgesamt erweisen sich so bereits bei Gutzkow Serialität und Miszellanität als zentrale Strukturelemente von Journalliteratur.

Im Anschluss daran wird das Projekt die bislang von der Forschung weitgehend vernachlässigten Zusammenhänge zwischen der Ästhetik der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts und Publikationsformaten der periodischen Presse untersuchen, wobei die »Miszelle« als offene, ›vermischte‹ und seriell angelegte journalistische Textsorte den heuristischen Ausgangspunkt für die Analyse derjenigen Strukturelemente von Zeitschriftenpublikationen bildet, die im Zuge der Projektarbeit terminologisch weiter zu differenzieren sein werden. Dies wird so bereits in Theodor Fontanes »Stechlin« nahegelegt, der 1897/98 in Über Land und Meer erscheint. Dort wird »das, was man früher Miszellen nannte«, als Prinzip unterhaltsamen Erzählens gekennzeichnet, wobei damit »allerlei« gemeint ist – von »Unglücksfällen« bis zu »Anekdoten aus allen fünf Weltteilen«, wie sie gleichermaßen für das Format des Journals wie für den polyphonen Dialogroman selbst charakteristisch sind.
Methodisch wird das Projekt zunächst von solchen exemplarischen Romanen ausgehen, die in der periodischen Presse erstveröffentlicht wurden, und diese als ›Ankertexte‹ auf ihre Wechselbeziehungen mit den medien-, diskurs- und gattungsspezifischen Implikationen ihres Publikationsrahmens untersuchen, wobei herausgearbeitet werden soll, welche Auswirkungen die Veröffentlichung in Fortsetzungen, die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen thematischen und textsortenspezifischen Serien sowie die Platzierung im Kontext unterschiedlicher Wissensdiskurse auf deren Erzählstruktur gehabt haben. Die Ausgangsvermutung ist, dass die zunehmende Präsenz von Zeitungen und Zeitschriften auf dem Massenbuchmarkt des 19. Jahrhunderts Rezeptionserwartungen ausgebildet hat, die die Übernahme je bestimmter Aspekte periodischer Pressepublikationen (wie z.B. von Fortsetzungsstrukturen, Aktualitätsbezügen oder von Interdiskursivität) in die immanente Erzählpoetik der Romane zur Folge hatten. Dabei ist aber nicht reduktiv davon auszugehen, dass die Romanliteratur passiv und reflexartig auf Formen der Zeitungs-und Zeitschriftenkommunikation reagiert, sondern dass beide – periodische Presse und Romanpoetik – sich wechselseitig beeinflussen, so dass man von einer Koevolution mit spezifischen Rückkopplungseffekten sprechen kann. In einem zweiten Schritt soll das textuelle Umfeld der exemplarischen ›Ankertexte‹ in den jeweiligen Zeitungen und Zeitschriften erschlossen werden, so dass neben die kanonischen Ausgangstexte ein Vergleichskorpus bislang weitgehend unbekannter Literatur tritt und auf diese Weise den herkömmlichen Rubrizierungen der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts eine medienhistorisch informierte Alternative zur Seite gestellt werden kann.

Das Projekt wird entsprechend sowohl einen Beitrag zur Analyse der Ästhetik von Journalliteratur als auch zur medienhistorischen Revision von Kanonisierungsprozessen leisten, es ermöglicht anhand der Pointierung serieller und miszellaner Strukturelemente der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts aber auch eine Verlängerung der Fragestellung ins 20. Jahrhundert bzw. bis hin zur Medienästhetik unserer Gegenwart.