Kohärenz/Brechung

Bildkünstlerische und literarische Werke im emphatischen Sinn sind vielfach mit der ›geschlossenen Form‹ des Buches korreliert; die ›offene Form‹ erscheint als der markierte Fall. Demgegenüber bildet sie in journalliterarischer Perspektive den Normalfall. Die basalen zeitlichen und texträumlichen Formatbedingungen des Medienformats Journal, durch die Journalpublikation wie Journallektüre konditioniert werden, zielen nicht auf Schließung, sondern auf Fortsetzung, nicht auf homogene Geschlossenheit, sondern auf heterogene Vielfalt und durchlässige Grenzen. Diese konzeptuelle Differenz ist seit den ausgehenden 1980er Jahren vor allem von medien- und literaturwissenschaftlicher Seite zunehmend in den Blick gerückt worden und erfährt derzeit im Zeichen von Serialisierung als Merkmal populärer, massenmedialer Unterhaltungsgenres (insbes. von Fernsehserien) rege Forschungsaufmerksamkeit. Der printmediale Untersuchungsgegenstand Journal bedarf hingegen, auch wenn in jüngerer Zeit vielfältige Einzelforschungsaktivitäten zu verzeichnen sind, noch näherer systematischer Erschließung.

Journalliterarische Serialisierung resultiert aus dem vom Medium getakteten periodischen Erscheinungsrhythmus, wodurch die Lektüre, insbes. diejenige von Fortsetzungsgenres, dem Wechsel von Lieferung und Unterbrechung unterworfen ist. Entsprechung erfolgt journalliterarische Rezeption – anders als diejenige buchförmig ausgelieferter Literatur – zeitlich heteronom und, im Fall von über die Journalnummer hinaus sich fortsetzenden Wort- und Bildbeiträgen, interrupt. Die konsekutiv an die Kohärenz eines schrift- oder bildförmigen Textes sich bindende sequentielle Lektürebewegung stößt an der texträumlich durch das Journalformat vorgegebenen Lieferungsbrechung an eine Aufschub erzwingende Grenze. Diese Grenze, üblicherweise markiert durch »(Die Fortsetzung folgt.)« o. ä., wird zunächst als Abbruch erfahren; sodann lenkt sie aber die Aufmerksamkeit des Lesers, dem zwar nicht der ganze Wort- oder Bildbeitrag, dafür aber die ganze Journalnummer vorliegt, auf das simultane Möglichkeitsfeld paratextueller Anschlußlektüren. Für solche paratextuellen Effekte, die unter der Bedingung des missing whole texträumlich die zeitgenössische Erstrezeption von Journalliteratur konditionieren, und somit für das Potential hybrider Kohärenzbildung bis hin zum Flow bleibt der Blick bisheriger Serialitätsforschung weitgehend blind, da er retrospektiv auf das sequenzierte Ganze einer bereits vorliegenden Serie ausgerichtet ist. Im Horizont einer als Werkgeschichte sich begreifenden Kunst- und Literaturgeschichte kann man die Privilegierung der sequentiellen gegenüber der simultanen Lektüre geradezu als Symptom verdeckten Weiterwirkens tradierter Vorstellungsmuster von Werkeinheit verstehen.

Demgegenüber zielt die Leitdifferenz »Kohärenz versus Brechung«, ausgehend nicht vom Werk, sondern vom Medium, darauf ab, analytisch und texttheoretisch Ernst zu machen mit der umfassenden Paratextualisierung von Journalpublikation und Journalrezeption. Aufs Ganze von Journal- und Buchliteratur bezogen, impliziert das auch, Vorstellungen vom ›Ganzen‹ durch mehr oder minder heterogene Schrift-Bild-Ensembles aus kurzen abgeschlossenen Einheiten und lieferungsförmigen Bruchstücken grundsätzlich zur Disposition gestellt zu sehen. In dieser grundsätzlichen Perspektive gilt es aus der Sicht der Distribution die Journalförmigkeit von Büchern (etwa im Fall des Lieferungswerks, der Fortsetzungspublikation innerhalb einer Taschenbuchserie, der Buchfortsetzung) ebenso zu sehen wie, aus der Sicht ihrer Archivierung, das Buchförmigwerden von Journalen.

Leitfragen der Teilprojekte aus der Sicht ›Kohärenz versus Brechung‹:

TP 1: 

  • Wie wirken sich journalförmige Sequentialisierungsverfahren  auf Erzählformate aus?
  • Auf welche Weisen homogenisieren und reflektieren narrative Texte die diskursive Heterogenität des Journals?

TP 2: 

  • Wie ermöglicht vor dem Hintergrund formatbedingter Brechungen, wie sie für periodische Printmedien konstitutiv sind, gestörte Periodizität Reflexion auf das Verhältnis von Zeit und Schrift?
  • Welche Darstellungsexperimente zur Gestaltung kontinuierlicher oder diskontinuierlicher Zeiterfahrung werden im Teilprojektcorpus beobachtbar, und inwiefern sind sie eingebettet in kohärenzstiftende Darstellungsformen der Journale?

TP 3: 

  • Wie bringen sich interrupte, wie kontinuierliche Leseangebote in den Konkurrenzkampf unterschiedlicher Medienformate auf dem literarischen Markt ein?
  • Welchen Stellenwert haben Paratextualisierungsstrukturen (journalliterarische, buchliterarische) für Bedeutungsbildung und Profilierung des jeweiligen Medienformats?

TP 4: 

  • Häufig kommt auf Journalseiten eine Ansammlung diverser Texte und Textbruchstücke zu stehen, die wie ein zusammenhangloses, womöglich rein satztechnisch bedingtes Sammelsurium anmutet. Entwickeln sich mit dem Aufkommen xylographischer Illustrationen Strategien der Bebilderung, die solcher Inkohärenz durch sinnstiftende Textverbindungen auf der Journal(doppel)seite begegnen? Oder tragen Holzstichbilder im Journal dazu bei, die Bruchlinien zwischen den Elementen einer Journal(doppel)seite zu verstärken und deren sperrige Textur auszustellen?
  • Mit dem Holzstich wird die Kopräsenz von Bild und Schrift auf ein und derselben Seite, vormals ein Ausnahmephänomen, möglich und in den 1830ern schlagartig fast selbstverständlich; entwickeln sich aus dieser neuen Situation journalspezifische Formen der Kooperation von Bild und Wort bzw. Schrift? Und zeitigt die neue Nähe beider womöglich auch medienformatspezifische Abstoßungsreaktionen?

TP 5: 

  • Werden fotografische Fragmente im Zusammenhang des Journals de-fragmentiert oder fördert die Fotografie umgekehrt die Fragmentierung des Journals?
  • Wie verhält sich die Fotografie im paratextuellen Netz der Journalliteratur?
  • Welche Zusammenhänge zwischen Fotografie und Paratexten werden im Layout der Journalliteratur evoziert?
  • Lässt sich eine Systematik der seriellen Strukturen erkennen, in welche die Fotografien der Journalliteratur eingebettet sind?
  • (Welche technischen, ökonomischen und produktionsästhetischen Kontexte lassen sich für Layoutveränderungen der Journalliteratur ausmachen?)

TP 6: 

  • Bildergeschichten und (Zeitungs-)Comics basieren als graphische Narrationen in spezifischer Weise auf der Kohärenz von sequentiellen und zugleich segemtalisierten Bildfolgen, es stellt sich daher die Frage, wie die paratextuelle Einrichtung des Journals (Seite, Ausgabe) das Erzählen in Bildern bedingt.
  • Daran schließt die Frage an, wie Bildergeschichten und Comics – als Sequenzen zeichnerisch gerahmter Einzelbilder – mittels (a) übergreifender Rahmungsstrategien und (b) spezifischer Rahmungstechniken Kohärenz überhaupt erst herstellen.